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RI III Salisches Haus (1024-1125) - RI III,2,3

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Heinrich wirft Hildebrand (Gregor VII.) vor, ihm gegenüber eine feindliche Haltung eingenommen und ihm erblich zustehende Vorrechte an sich gezogen zu haben, ihm zudem durch seine Machenschaften Italien zu entfremden versucht zu haben, Hand an die Bischöfe, welche mit ihm (dem König) als liebste Glieder vereint seien, gelegt und diese, wie sie selbst bezeugen, beleidigt zu haben sowie sich offen gegen ihn erhoben und den Verlust von Seele und Herrschaft angedroht zu haben, woraufhin auf Wunsch der Großen des Reiches ein Hoftag einberufen worden sei, auf dem der Episkopat den Absagebrief verfaßt habe, dem sich Heinrich anschließt, ihm sämtliche päpstlichen Befugnisse aberkennt und ihm unter Hinweis auf sein von Gott gegebenes und von den Römern beschworenes Patriziat zurückzutreten befiehlt (percepi a te vicissitudinem, qualem oportebat ab eo, qui vitę regnique nostri perniciosissimus hostis esset. Nam ... omnem hereditariam dignitatem ... rapuisses, ... regnum Italię pessimis artibus alienare temptasti. ... in reverentissimos episcopos, qui nobis velut dulcissima membra uniti sunt, manum mittere non timuisti eosque superbissimis iniuriis acerbissimisque contumeliis ..., ut ipsi aiunt, exagitasti. ... insurgere ausus es ... generalem conventum omnium regni primatum ipsis supplicantibus habui. Ubi ... veris assertionibus illorum, quas ex ipsorum litteris audies, palam factum est, te nullatenus in apostolica sede posse persistere. Quorum sententia ... ego quoque assentiens omne tibi papatus ius ... abrenuntio atque ut a sede urbis, cuius mihi patriciatus Deo tribuente et iurato Romanorum assensu debetur, ut descendas edico). – Brief.

Incipit:
Cum hactenus ex te

Überlieferung/Literatur

Kop.: Bruno, Bell. Saxon., cod. 1323 (15. Jh.) f. 21’, Universitätsbibliothek Leipzig (B1); Annal. Saxo (aus Bruno), Ms. lat. 11851 (12. Jh.) f. 175-175’, Bibliothèque Nationale Paris (B3); St. Emmeramer Sammlung no 96, cod. lat. 14096 (12. Jh.) f. 119, Bayerische Staatsbibliothek München (E); Tegernseer Briefsammlung no 541a, cod. lat. 18541a (11. Jh) f. 222’-223, ebenda (T). – Teilfaks.: Chroust, Mon. Paleogr. 2, 2, 8b aus T; Canossa 1077. Erschütterung der Welt 2. Katalog 12 no 2 aus T. – Drucke: Freher, German. rer. script. (1600) 122 aus nicht erhaltener Handschrift B2; MGH LL 2, 46; MGH Const. 1, 108 f. n° 60; MGH Dt. MA 1, 13 ff. no 11; Bruno, Bell. Saxon. c. 66 (MGH Dt. MA 2, 58) aus B; Annal. Saxo 1076 (SS 6, 707 = SS 37, 438) aus B3. – Vgl. Bruno, Bell. Saxon. c. 65 (MGH Dt. MA 2, 57); Arnulf. Mediol. V, 7 (SS 8, 30 = SS rer. Germ. [1994] 225); Donizo, V. Mathild. I, 19 v. 1293-1295 (RIS2 5,2 50). – Zur Wormser Versammlung vgl. die Reg. 784 genannten Quellen.

Kommentar

Der erste Absagebrief Heinrichs IV. an Gregor VII. ist bei Bruno als Insert im Brief des Königs an die Römer (vgl. Reg. 786) enthalten; die Tegernseer und St. Emmeramer Handschrift überliefern ihn unabhängig von diesem. Anders als der zweite Absagebrief des Königs (vgl. Reg. 803) war der erste tatsächlich zur Absendung nach Rom bestimmt. Vgl. Erdmann, Anfänge staatlicher Propaganda, HZ 154 (1936) 493 ff. – Ebenso wie das Bischofsschreiben (vgl. Reg. 784) dürfte auch der Brief des Königs konzeptuell bereits vorbereitet gewesen und in Worms lediglich in die endgültige Form gebracht worden sein; vgl. Hiestand, Planung (Festschr. E. Boshof 2002) 370. – Eine Verfasserschaft Gottschalks von Aachen (Adalbero C) kann zwar für den Brief Heinrichs IV. an die Römer angenommen werden (vgl. Reg. 786), ist aber gegen die Annahme von Gundlach, Ein Dictator aus der Kanzlei Heinrichs IV. (1883) 75 f. für den inserierten Brief an Gregor VII. unwahrscheinlich. Vgl. Erdmann-Gladiß, Gottschalk von Aachen im Dienste Heinrichs IV., DA 3 (1939) 151 ff. – Zum Fehlen der Salutatio vgl. Hack, Gruß, eingeschränkter Gruß und Grußverweigerung AfD 47/48 (2001/02) 48 f. und 70 ff.; vgl. auch Reg. 778. ‒ Die Erwähnung einer päpstlichen Drohung mit dem Verlust von Seele und Herrschaft dürfte sich auf eine am 1. Januar in Goslar mündlich vorgebrachte Exkommunikationsandrohung beziehen (vgl. Reg. 783), wobei allerdings Heinrich IV. den Anschein eines feststehenden Planes Gregors VII., ihm die Herrschaft zu entziehen, erwecken möchte (ut tuis verbis utar, quod aut tu morereris aut mihi animam regnumque tolleres), während Gregor VII. selbst rückblickend lediglich von einer Möglichkeit für den Fall des Nichtgehorsams spricht (EC 14 [Jaffé, Bibl. 2, 538] = EV 14 [Cowdrey 38]; vgl. Reg. 821). – Mit der von Gregor VII. geraubten Erbwürde (omnem hereditariam dignitatem, que mihi ab illa sede debebatur, ... rapuisses) dürfte das im Bischofsschreiben (vgl. Reg. 784) explizit erwähnte Bestätigungssrecht bei der Papstwahl gemeint sein. Vgl. Schneider, Prophetisches Sacerdotium (1972) 151, der hier eine Gleichsetzung mit den Patriziatsrechten erkennen möchte. Dagegen sieht A. Michel, Papstwahl und Königsrecht (1936) 141 f. in der hereditaria dignitas zwar ebenfalls das Recht bei der Papstwahl, trennt dieses jedoch deutlich von dem erst am Schluß des Briefes genannten Patriziat: "Das Konsensrecht wollte Heinrich bei der Bestätigung Gregors VII. gebrauchen, den Patriziat aber als Notrecht zur Beseitigung des angeblich schlecht regierenden Papstes." Boshof, Salier (42000) 218 weist darauf hin, daß das den Römern übermittelte Absageschreiben – anders als das zweite königliche Absageschreiben (vgl. Reg. 803) – den von Gott gewährten und von den Römern übertragenen Patriziat betont, wodurch der Aufforderung zur Empörung gegen Gregor VII. und der Neuwahl eines Papstes im Zusammenwirken mit Heinrich IV. (vgl. Reg. 786) "eine gewissermaßen staatsrechtliche Begründung" gegeben worden sei. Zur Rolle des Patriziats im Absagebrief Heinrichs vgl. auch Krause, Papstwahldekret (1960) 107 mit Anm. 127; Vollrath, Kaisertum und Patriziat, ZKG 85 (1974) 11 ff., v.a. 14 und 44; Hehl, König – Kaiser – Papst, in: Salisches Kaisertum (2007) 11 ff. Zur Übertragung des Patriziats an Heinrich IV. im Jahre 1061 vgl. Reg. 225 und 227. – Den Vorwurf Heinrichs IV., der Papst habe ihm gegenüber ‚versucht, durch schlimmste Machenschaften das Königreich Italien zu entfremden‘ (regnum Italię pessimis artibus alienare temptasti), bezieht Schmale, Briefe Heinrichs IV. (FvSt 12) 63 Anm. 2 auf Gregors VII. Haltung in der Frage der Besetzung der Bistümer Mailand, Fermo und Spoleto oder dessen Unterstützung der Pataria, während Thomas, Gregors VII. imperiale Politik (Festschr. E. Hlawitschka 1993) 255 ff., v.a. 263 ff. eine Anspielung auf darüber hinausgehende Pläne des Papstes erkennen möchte. – Durch die Körpermetaphorik betont Heinrich IV. in Anspielung auf 1 Kor 12,12-27 die organologische Einheit von Bischöfen (qui nobis velut dulcissima membra uniti sunt) und König (in ipsum caput insurgere ausus es) und verteidigt damit seine Stellung als Haupt der Reichskirche. Vgl. Schneider, Prophetisches Sacerdotium (1972) 152; Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung (1978) 295 f.; Weinfurter, Heinrich IV. und die Bischöfe, in: Vom Umbruch zur Erneuerung (2006) 404. – Heinrich billigt nach altem Synodalrecht die sententia der Bischöfe und macht damit deren Stimme zu seiner eigenen; vgl. Schneider, Prophetisches Sacerdotium (1972) 151. – Suchan, Königsherrschaft im Streit (1997) 84 sieht in der Reaktion Heinrichs eine Antwort auf einen als willkürlich empfundenen, "dem eigenen Rang und damit dem Ranggefüge insgesamt unangemessenen Eingriff in die ‚Ordnung‘." Seine Antwort entspreche dem "für Konflikte üblichen Verhalten, Ausgleich für Verletzungen des Ranggefüges zu suchen." – Zimmermann, Wurde Gregor VII. 1076 in Worms abgesetzt?, MIÖG 78 (1970) 130 möchte in dem königlichen Schreiben keine Absetzung des Papstes, sondern eine Aufforderung zur Autodeposition erkennen. – Vgl. Meyer von Knonau, Jbb. 2, 626 ff.; Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands3-43, 793 f.; Hefele-Leclercq, Histoire des conciles25, 157 f.; Brackmann, Heinrich IV. als Politiker, SB d. Preuß. Akad. d. Wiss., Philos.-Hist. Klasse 32 (1927) 393 ff.; Schmeidler, Kaiser Heinrich IV. und seine Helfer im Investiturstreit (1927) 297 ff., 372 f. und 398; Fliche, La réforme grégorienne 2 (1925) 280 f.; Hampe, Heinrichs IV. Absagebrief an Gregor VII., HZ 138 (1928) 315 ff.; Pivec, Studien und Forschungen zur Ausgabe des Codex Udalrici III, MÖIG 48 (1934) 329 f.; Erdmann, Anfänge staatlicher Propaganda, HZ 154 (1936) 491 ff.; Michel, Papstwahl und Königsrecht (1936) 141 f., 202 f. und 215 f.; Erdmann, Studien (1938) 271 Anm. 1 und 280 mit Anm. 2; Brackmann, Tribur, Einzelausg. aus den SB d. Preuß. Akad. d. Wiss., Philos.-Hist. Kl. 9 (1939) 13 ff.; Erdmann, Untersuchungen zu den Briefen Heinrichs IV., AUF 16 (1939) 217 f.; Haller, Der Weg nach Canossa, HZ 160 (1939) 231 ff.; Tellenbach, Zwischen Worms und Canossa, HZ 162 (1940) 325; von den Steinen, Canossa (1957) 53 ff.; Heimpel, Vier Kapitel aus der deutschen Geschichte (1960) 40; Zimmermann, Wurde Gregor VII. 1076 in Worms abgesetzt?, MIÖG 78 (1970) 123 f. und 130 f.; Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium (1972) 34, 36, 98, 112 und 127; Schneider, Prophetisches Sacerdotium (1972) 150 ff.; Rudolph, Erzbischof Siegfried von Mainz (1973) 103; Werner, Zwischen Canossa und Worms (1973) 70; Hellwig-Bachour, Die Kaiseridee unter Heinrich IV. (Diss. masch. München 1974) 66 f.; Hlawitschka, Zwischen Tribur und Canossa, HJb 94 (1974) 26; Vollrath, Kaisertum und Patriziat, ZKG 85 (1974) 12 ff.; Zimmermann, Der Canossagang von 1077 (1975) 26; Robinson, Authority and Resistance (1978) 62; Boshof, Heinrich IV. (1979) 66 f.; Blumenthal, Investiturstreit (1982) 133; Szabó-Bechstein, Libertas ecclesiae (Studi Gregoriani 12, 1985) 162; Tellenbach, Westliche Kirche (1988) 188 f.; Struve, Gregor VII. und Heinrich IV. (Studi Gregoriani 14, 1991) 35 f., wieder in: ders., Salierzeit im Wandel (2006) 100 mit 310; ders., Stellung des Königtums (Salier 3, 1991) 234 mit Anm. 104; Weinfurter, Herrschaft und Reich der Salier (1991) 128 f.; Martin, Der salische Herrscher als Patricius Romanorum, FMASt 28 (1994) 285 ff.; Zey, Synode von Piacenza, QFIAB 76 (1996) 508 mit Anm. 69; Suchan, Königsherrschaft im Streit (1997) 84 und 103 ff.; Cowdrey, Pope Gregory VII (1998) 137 ff.; Robinson, Henry IV (1999) 144; Boshof, Salier (42000) 218; Blumenthal, Gregor VII. (2001) 179; Althoff, Heinrich IV. (2006) 136 und 138; Canossa 1077. Erschütterung der Welt 2. Katalog (2006) 10 und 12 no 2 [T. Struve]; Gresser, Synoden und Konzilien in der Zeit des Reformpapsttums (2006) 145; Struve, Herrscher im Konflikt, in: Vom Umbruch zur Erneuerung (2006) 61; Weinfurter, Heinrich IV. und die Bischöfe, in: Vom Umbruch zur Erneuerung (2006) 404 und 407 f.; ders., Canossa (2006) 122 f. mit 215; Hehl, König – Kaiser – Papst, in: Salisches Kaisertum (2007) 11 ff.; Melve, Inventing the Public Sphere (2007) 215 ff.; R. Schieffer, Gregor VII. und die Absetzung König Heinrichs IV., in: Recht – Religion – Verfassung (2009) 197 f.; ders., Papst Gregor VII. (2010) 53 f.; Förster, Bonizo von Sutri (2011) 106 und 185 f.; R. Schieffer, Worms, Rom und Canossa, HZ 292 (2011) 596 f.; Muylkens, Reges geminati (2012) 96; H. K. Schulze, Von der Harzburg nach Canossa (2012) 42 f.

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Empfohlene Zitierweise

RI III,2,3 n. 785, in: Regesta Imperii Online,
URI: http://www.regesta-imperii.de/id/fb7827fa-060b-404d-a3cc-7b37f0784e6b
(Abgerufen am 28.03.2024).